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Strukturniveau – wie verletzlich sind wir?

Mit Struktur ist hier der Aufbau und die Funktionsfähigkeit der psychischen Konstitution gemeint. Mit unserer Psyche ist es wie mit unserem Körper: Verfügen wir über eine gute Konstitution, sind wir stark, belastbar und widerstandsfähig, das heißt wir haben ein hohes Strukturniveau. Ist die Psyche dagegen fragil, sind wir weniger gefestigt, sind wir empfindlicher, verletzlicher und anfälliger für Krankheiten, das heißt unser Strukturniveau ist niedriger. Die Psychologie spricht von der „Vulnerabilität“ der Persönlichkeit, unserer individuellen Disposition zu psychischen Krankheiten und der Fähigkeit der Verarbeitung von Konflikten. Diese „Veranlagung“ bzw. unsere psychische Struktur ist jedoch weniger genetisch als vielmehr maßgeblich durch die Erfahrungen unserer Kindheit geprägt, der Zeit, in der sich unsere Persönlichkeit formt, in der sich unsere Art, Dinge zu erleben und uns zu verhalten, manifestiert.

Im Idealfall haben wir mithilfe unserer Eltern – selbst stabile Persönlichkeiten – sechs grundlegende Kompetenzen entwickeln können, die es uns ermöglichen, mit Konflikten adäquat umgehen zu können: „Selbstwahrnehmung“, „Selbststeuerung“, „Abwehr“, „Objektwahrnehmung“, „Kommunikation“ und „Bindung“. Zusammen machen diese sechs Kompetenzen unsere „Struktur“, also unsere persönliche Disposition aus. Sind wir in allen Bereichen bzw. Kompetenzen „gut integriert“, laufen wir nicht so schnell Gefahr, den Boden unter unseren Füßen zu verlieren, auch nicht in Krisenzeiten. Sind wir hinsichtlich bestimmter Kompetenzen dagegen nur „mäßig“, „gering“ oder gar nicht integriert („Desintegration“), können uns Konflikte – manchmal schon alltägliche – leichter aus dem Gleichgewicht bringen und unsere Interaktion mit anderen Menschen empfindlich stören.

Wo liegt unser Strukturniveau?

Mithilfe genauer Beobachtung, Befragung und Einordnen der Schilderung unseres Erlebens und Verhaltens, kann ein analytisch ausgebildeter Psychotherapeut unsere Vulnerabilität bzw. Verletzlichkeit einschätzen. Sein Fokus liegt dabei auf unseren letzten ein bis zwei Jahren. Wie schildern wir rückblickend bestimmte Situationen? Wie haben wir hier gehandelt und dort gefühlt? Wie sehen/ beschreiben wir uns selbst? Wie nehmen wir unsere Mitmenschen wahr? Um unsere aktuellen Krisen geht es dabei nicht vorrangig. Der Therapeut schätzt vielmehr unsere seelische Struktur ein, eine Art Gradmesser für unsere Veranlagung, psychisch zu erkranken.

Mit dem folgenden 6-Punkte-Check können wir versuchen, uns mit uns selbst zu beschäftigen und eine vorläufige Einstufung vornehmen. Da uns jedoch nicht alles über uns selbst bewusst ist, wir alle sogenannte „blinde Flecken“ haben, kann diese Einordnung nur ein Anhaltspunkt sein. Abgesichert wird eine solche Selbsteinschätzung insbesondere bei Vorliegen ernsterer Symptome durch einen Psychotherapeuten. Eine ambulante Psychotherapie setzt übrigens voraus, dass ein mindestens gering integriertes Strukturniveau auf allen sechs Ebenen vorliegt.

 

Struktur des Holzgeländers im Treppenhaus

1. Selbstwahrnehmung

Bei diesem Element unserer psychischen Struktur geht es darum, welches Bild wir von uns selbst, auch im Hinblick auf unsere psychosexuelle und soziale Identität haben, ob dieses Bild in sich schlüssig und stabil ist, und ob wir innerseelische Vorgänge und Gefühlsregungen wie Angst, Ärger, Trauer, Freude, Stolz, Neugier in uns ausmachen und differenziert wahrnehmen können.

Gute Integration

Bei guter Integration bzw. hohem Niveau der Struktur haben wir ein reflektiertes, ganzheitliches, dauerhaftes Bild von unserem Selbst, sehen uns mit unserem Körper als Einheit, können uns in Bezug auf Alter, Geschlecht, Gesundheit etc. umfassend beschreiben. Wir kennen unsere Eigenschaften und Fähigkeiten und wissen, was uns von anderen unterscheidet. Dabei sind wir imstande, uns quasi aus der Distanz, auch rückblickend, zu betrachten sowie nach Erfahrungen und Rückmeldungen kleine Korrekturen an unserem Selbstbild vorzunehmen. Innerseelische Vorgänge und Affekte (positive wie negative in großer Bandbreite) nehmen wir als Signale wahr; sie wirken handlungssteuernd. In Konflikten können unseren Fähigkeiten zur Selbstbeobachtung und Selbstreflexion vorübergehend leicht eingeschränkt sein, aber sie sind grundsätzlich nicht außer Kraft gesetzt.

Mäßige Integration

Bei mäßiger Integration ist unser Selbstbild nicht stabil, sondern wird unter Belastungen immer wieder in Frage gestellt, ist abhängig von Situationen und Stimmungen. Wir neigen eher zu freudlosen Affekten wie Enttäuschung, Wut, Angst, Selbstentwertung und Depressivität als zu positiven. Auch nehmen wir diese nur eingeschränkt wahr. In schwierigen Situationen versuchen wir uns stabil zu halten, indem wir Affekte vermeiden. Auf die Frage „Wer bin ich?“ zu antworten, fällt uns nicht leicht, zumal wir nicht gern über uns nachdenken. Lieber sprechen wir darüber, was wir bei der einen oder anderen Angelegenheit gesagt oder gemacht haben.

Geringe Integration

Bei geringer Integration fehlt uns die Fähigkeit, uns selbst differenziert wahrzunehmen. Wenn wir uns selbst beschreiben müssen, sind wir unsicher, schildern bruchstückhaft Situationen, in denen wir agiert haben, oder wir antworten mit phrasenhaften Charakterisierungen. Unser Selbstbild ist diffus oder verzerrt, großartig überzeichnet oder entwertet. Auch vermischen wir es mit dem Bild unseren engen Bezugspersonen. Auf andere können wir von einer Begegnung zur nächsten „wie verwandelt“ wirken. Unser Erleben und Handeln ist situationsabhängig unterschiedlich, oft widersprüchlich. Affekte sind vor allem die des Ekels, der Wut und der Verachtung. Wir können diese nicht differenziert wahrnehmen, spüren oft nur eine vage Erregung. Möglicherweise ersetzt aber auch Gemütsleere, Entfremdung, Depression oder unechte Freude (manische Gestimmtheit) unser affektives Erleben.

Desintegration

Bei Desintegration bzw. einem sehr niedrigem Niveau unserer Struktur ist es uns unmöglich, unseren eigenen Charakter zu beschreiben. Werden wir dazu aufgefordert, sind wir irritiert, wenn nicht misstrauisch, und ergehen uns, wenn überhaupt, in verwirrend detaillierten Situationsbeschreibungen, statt zu abstrahieren. Wir schwanken in unserer Selbsteinschätzung zwischen Ratlosigkeit und einer Vorstellung von Grandiosität. Entweder haben wir keinerlei Identität, weder eine soziale noch eine sexuelle, oder aber wir überidentifizieren uns mit einer sozialen Rolle bzw. entwickeln eine wahnhafte Identität (Größenwahn, Liebeswahn, Schuldwahn). Affekte nehmen wir nicht wahr. Lockert sich unsere Abwehr dagegen jedoch und es kommt zu einer Wahrnehmung unserer Gefühle, verhalten wir uns distanz- und schamlos. Wir fühlen uns heftigen Emotionen ausgeliefert, ohne sie benennen zu können.

2. Selbststeuerung

Bei der Selbststeuerung geht es um unsere Fähigkeit, mit Triebimpulsen und Emotionen umzugehen und unser Selbstwertgefühl zu regulieren. Dazu müssen wir uns als verantwortlich für unser Handeln erleben und ein „gesundes Mittelmaß“ an Steuerung finden, das weder unsere Handlungsfähigkeit zu sehr einschränkt noch ungewollte, unkontrollierte Ausbrüche von Trieben erlaubt.

Gute Integration

Von einer guten Integration bzw. einem hohen Niveau unserer Struktur können wir ausgehen, wenn es uns gelingt, die Diskrepanzen zwischen unseren eigenen Wünschen, unseren Wert- und Moralvorstellungen sowie den Interessen anderer (unserer Umwelt) zu reflektieren und eine Konfliktlösung, quasi einen Kompromiss, zu suchen, ohne, dass unser Selbstwertgefühl leidet. Wir versuchen, unsere Triebe zu befriedigen, können sie aber bei Bedarf auch aufschieben oder kompensieren. Mit dem Nebeneinander von gegensätzlichen Wünschen, Gefühlen und Gedanken (Ambivalenzen) kommen wir klar; Widersprüche versuchen wir aufzulösen.

Mäßige Integration

Auf dem Niveau der mäßigen Integration bewegen wir uns, wenn wir Triebwünsche und Affekte schwer bis gar nicht tolerieren können. Stattdessen frieren wir sie ein, kontrollieren uns stark (Übersteuerung) und befürchten bei seltenen Impulsdurchbrüchen gleich schlimmste Sanktionen unserer Umwelt. Flexibel mit unseren Trieben umzugehen, sie zu verschieben oder zu verlagern, ist uns kaum möglich. In punkto Sexualität sind wir gehemmt. Aggressionen unterdrücken wir, was selbstentwertende und -bestrafende Tendenzen in uns auslösen kann. Diskrepanzen zwischen unseren Wünschen und denen anderer kränken uns, so dass wir uns zurückziehen. Unser Selbstwertgefühl ist leicht störbar und nur durch Bestätigung von außen wieder herstellbar.

Geringe Integration

Sind wir auf dem Niveau der geringen Integration der Struktur einzuschätzen, verhält es sich ganz anders. Wir unterdrücken unsere Triebe und Affekte nicht, sondern reagieren auf unsere Unfähigkeit, diese sozial angemessen und im Einklang mit unseren verinnerlichten Wert- und Moralvorstellungen zu befriedigen, mit impulsivem, von uns selbst als überwältigend empfundenem, häufig aggressivem Verhalten (Untersteuerung). Die Missbilligung durch unsere Umwelt können wir im Vorfeld nicht „erahnen“ und uns entsprechend kontrollieren. Schuldgefühle danach können aber dazu führen, dass wir uns selbst bestrafen. Unsere Selbstwertgefühl ist sehr störanfällig, wir sind leicht kränkbar und empfinden Scham und Ekel vor uns selbst.

Desintegration

Auf der Stufe Desintegration befinden wir uns, wenn unsere Fähigkeit zur Selbststeuerung sehr schwer gestört ist, wir uns – ungeachtet der Reaktionen unserer Umwelt – distanzlos und schamlos verhalten, sobald unsere Abwehr versagt und unsere Triebe aufs Heftigste durchbrechen. Aufschub und Verlagerung von Triebimpulsen ist uns nicht möglich. Unsere Aggressionen sehen wir als von anderen ausgelöst an und reagieren mit zerstörerischem Hass. Unsere Sexualität bezieht sich nicht auf ein Objekt, sondern wird rein trieborientiert, rollenhaft (auch in Perversionen) und oft aggressiv ausgelebt. Auch in kriminellen Handlungen sowie in Alkohol- und Drogenexzessen können sich unsere Steuerungsverluste äußern. Wir selbst haben dabei das Gefühl, fremdgesteuert zu sein. Insofern sprechen Suchtmittelexzesse oft für ein eher niedriges Strukturniveau.

3. Abwehr

Mit der Abwehr haben wir ein Mittel, das uns hilft, unser seelisches Gleichgewicht in Belastungssituationen aufrechtzuerhalten, indem es belastende, unangenehme, unerträgliche Teile unserer Wahrnehmung ausklammert. Dies geschieht unbewusst, mithilfe unterschiedlicher Mechanismen, ist mehr oder weniger effektiv – und es geht zwangsläufig zu Lasten unserer Wahrnehmung der Realität.

Gute Abwehr

Im besten Fall, also bei guter Integration, gelingt es uns, „unerfreuliche“, weil konfliktbelastete Triebwünsche und Affekte mithilfe bestimmter Abwehrmechanismen auszuräumen, ohne, dass sich unsere Bilder von uns selbst und anderen sowie unser Bezug zu anderen verändern. So vergessen, übersehen oder löschen wir beim Abwehrmechanismus Verdrängung bestimmte „schlechte“ oder „schmerzliche“ Erfahrungen, Wünsche und Gedanken, so dass sie selbst, wenn wir uns bemühen, nicht in unser Bewusstsein gelangen. Beim Abwehrmechanismus Rationalisierung finden wir vermeintlich logische Rechtfertigungen für inakzeptables Verhalten. Verschiebung schließlich funktioniert so, dass wir ein Gefühl von seinem ursprünglichen Bezug lösen und auf einen anderen, ähnlichen, aber für uns weniger konflikthaften schieben.

Mäßige Integration

Auch bei mäßiger Integration richtet sich unsere Abwehr gegen unsere inneren Triebwünsche und Affekte, darüber hinaus jedoch gegen Gefahren, die von unserer Bezogenheit auf bzw. Abhängigkeit von anderen Menschen/unserer Umwelt herzurühren scheinen. Ein typischer Abwehrmechanismus ist die Verleugnung, mittels derer wir Aspekte der Realität und unseres Erlebens einfach nicht anerkennen. Ein anderer Abwehrmechanismus ist die Wendung gegen die eigene Person, bei der wir einen Impuls, wie etwa eine Aggression, nicht gegen das eigentliche Zielobjekt (z. B. eine Person, die in unseren Augen Schuld an uns widerfahrenem Leid hat) richten, sondern gegen uns selbst, was zu Selbstentwertung, depressiven Verstimmungen und Selbstverletzung führen kann. Bei der Reaktionsbildung besteht unsere Abwehr darin, dass wir aufgrund von Schuldgefühlen unsere eigentlichen Gedanken und Gefühle durch das Gegenteil ersetzen. Wehren wir etwas mit Isolierung ab, trennen wir unsere verstandes- und gefühlsmäßige Verarbeitung von Dingen, unsere Emotionen werden quasi abgekoppelt. Bei der Projektion schließlich schreiben wir unsere eigenen inakzeptablen Impulse und Gefühle anderen zu.

Geringe Integration

Bei geringer Integration arbeitet unser Abwehrmechanismus nicht mehr beschränkt gegen unsere inneren Triebwünsche und Affekte an, sondern er greift über auf unsere Mitmenschen, von denen wir uns mit unseren Vorstellungen und Wünschen nicht immer abgrenzen können. Unsere Bilder von uns selbst und anderen sind unsicher, verzerrt. Ein typischer Abwehrmechanismus ist die Spaltung, die sich darin äußert, dass wir uns und andere nicht als komplexe Menschen mit Stärken und Schwächen sehen, sondern nur als gut oder böse – das aber nicht konstant, sondern von Person zu Person und innerhalb kurzer Zeit wechselnd. Die Projektive Identifizierung ist eine unvollständige Projektion, bei der wir abgespaltene, negative, bedrohliche Teile von uns selbst in anderen sehen, was uns wiederum beunruhigt und dazu führt, dass wir diejenigen überwachen und kontrollieren müssen.

Desintegration

Auf dem Niveau der Desintegration arbeiten wir mit Abwehrmechanismen, die sich gegen eine unbestimmte Größe richten, die uns der Wirklichkeit weitgehend verschließen, die uns zwar vorübergehend stabilisieren können, aber keine Triebbefriedigung ermöglichen. Mit der Spaltung halten wir uns ganze Erlebnisbereiche wie z. B. Sexualität „vom Leib“ oder aber wir trennen wahnhafte Inhalte von realistischen Anteilen, welche dann ohne jeden Bezug nebeneinanderstehen. Ähnlich ist es bei der Verleugnung, bei der wir augenscheinliche Teile der Realität (in Partnerschaft, Familie, Beruf) schlicht nicht wahrnehmen. Die Psychotische Projektion schließlich äußert sich darin, dass wir eigene, z. B. aggressive oder sexuelle, Impulse anderen zuschreiben. Scham oder Schuld können wir dabei nicht empfinden, die projizierten Impulse nicht abwehren – schließlich sind die anderen die Verursacher.

 

Struktur und Lichteffekte Wendeltreppe

4. Objektwahrnehmung

Die Objektwahrnehmung ist das Pendant zur Selbstwahrnehmung. Sie beschreibt unsere Fähigkeit, uns ein konstantes, ganzheitliches Bild von anderen Menschen zu machen, deren „Welt“ von unserer eigenen abzugrenzen, sie zu verstehen und uns einfühlen zu können, ohne die eigenen Gedanken und Wünsche mit denen der anderen zu vermischen.

Gute Integration

Bei guter Integration haben wir ein differenziertes Bild von anderen Menschen. Gedanken, Gefühle und Triebe können wir bezüglich ihrer Herkunft klar zuordnen – uns selbst oder unserem Gegenüber. Auch in konflikthaften Situationen und unter dem Druck unserer Triebe bleiben unsere Bilder konstant und in sich schlüssig. Wir können Menschen beschreiben, uns in ihre jeweiligen Positionen hineinversetzen; wir zeigen Interesse, Anteilnahme, je nach Sympathie auch Gefühle wie Freude, Sorge, Ärger usw. Beziehungen werden dabei durch Interessenkonflikte nicht infrage gestellt.

Mäßige Integration

Auf dem Niveau der mäßigen Integration haben wir manchmal Schwierigkeiten, unsere Gedanken und Gefühle von denen der anderen eindeutig abzugrenzen. In Konfliktsituationen, unter dem Druck eigener Wünsche oder denen des anderen gerät das Bild, das wir von unserem Gegenüber haben, ins Wanken. Wir können uns nicht richtig in den anderen einfühlen, bleiben bei unserer Perspektive. Dabei neigen wir dazu, charakteristische Züge und Eigenschaften des anderen auszublenden, ihn nur positiv oder nur negativ zu beschreiben. Typische Reaktionen auf Interessenkonflikte sind plötzliches Infragestellen der Beziehung, depressives Anklammern, Angst und Entwertung sowie im Anschluss Reue, Wiedergutmachungswünsche und Versöhnung.

Geringe Integration

Bei geringer Integration fehlt uns das nötige Verständnis dafür, dass andere Menschen anders „ticken“ als wir. Wir können sie nicht in ihrer Komplexität, mit all ihren Stärken und Schwächen sehen. Wir begreifen nicht, dass sie ihre eigene Geschichte und Persönlichkeit, ihre individuellen Beweggründe für das eine oder andere Verhalten und bestimmte Ansichten haben. Uns fällt es schwer, Menschen so zu beschreiben, dass Dritte sich ein Bild von ihnen machen können. Im Grunde teilen wir sie ein – in solche, die so sind wie wir, und andere, mit denen wir nichts anfangen können.

Wir erleben die anderen also in Extremen, als gut oder schlecht, und entwickeln entsprechend extreme Affekte ihnen gegenüber, empfinden sie z. B. als bedrohlich oder ausbeuterisch. Unsere Vorstellung von unserem perfekten Partner ist so, dass er alle Qualitäten vorweisen kann, die wir uns wünschen, gleichzeitig weder eigene Ansprüche noch Unzulänglichkeiten hat. In guten Zeiten sind unsere Affekte innerhalb der Beziehung neutral, erleben wir alles als selbstverständlich, in konfliktbehafteten Zeiten aber nimmt es bedrohliche, zerstörerische Züge an.

Desintegration

Auf der Stufe der Desintegration sind wir nicht uneingeschränkt in der Lage, uns als von anderen getrenntes Individuum wahrzunehmen. Das Bild von unserem Selbst und das unseres jeweiligen Gegenübers (z. B. unseres Partners) und deren Teilaspekte verschwimmen. Unsere Bedürfnisse setzen wir gleich mit denen unseres Partners und umgekehrt. Ein „Ich bin müde“ wird zum „Wir sind müde“. An der Geschichte des anderen, an seiner Besonderheit, seiner Gedanken- und Gefühlswelt haben wir kein Interesse, von tieferem Verständnis und Einfühlungsvermögen ganz zu schweigen. Bei Konflikten sind für uns ausschließlich die eigenen Bedürfnisse relevant. Sollen wir andere beschreiben, gelingt uns das nicht, weil sich unsere Schilderung z. B. nur um eine einzige Eigenschaft oder um eigene Triebaspekte dreht.

5. Kommunikation

Bei der Kommunikation geht es um unsere Fähigkeit, uns mit unseren Mitmenschen auszutauschen, das heißt ihnen unsere Gedanken, Wünsche und Gefühle mitzuteilen, deren Mitteilungen wiederum wahrzunehmen, zu differenzieren und emotional zu entschlüsseln. Dafür brauchen wir Einfühlungsvermögen, aber auch ein gewisses Balancegefühl für Nähe und Distanz.

Gute Integration

Von guter Integration oder gut integriertem Strukturniveau können wir sprechen, wenn wir grundsätzlich interessiert daran und in der Lage sind, mit unseren Mitmenschen zu kommunizieren, wenn wir unser Gegenüber verstehen, wenn der gegenseitige Austausch anregend für uns ist, wenn er Affekte wie Freude, Interesse, Ärger usw. erzeugt, sich entwickelt und am Ende etwas dabei „herumkommt“. Zwar kann unsere Gesprächsbereitschaft in Konfliktsituationen – z. B. wenn es um ein „Tabuthema“ geht – vorübergehend eingeschränkt oder der Inhalt der Kommunikation neurotisch „gefärbt“ sein, aber zum Abriss in der Kommunikation kommt es in der Regel nicht.

Mäßige Integration

Dies ist auch bei mäßiger Integration selten der Fall. Auf diesem Niveau wird die Kommunikation mit uns jedoch dadurch erschwert, dass wir unsere Gemütserregungen selbst nicht immer richtig wahrnehmen und entsprechend mitteilen können. Ebenso wirkt sich unser Vermeiden von Affekten bzw. das Vorherrschen bestimmter Affekte (z. B. Selbstentwertung, Jähzorn,  Ansprüchlichkeit, Selbstbezogenheit) negativ auf unsere Kommunikation aus. Auch sind unsere Äußerungen eher sozialverträglich-pauschal als offen-persönlich. Ein Wir-Gefühl will sich meist nicht einstellen – wenn, dann, weil die anderen sich auf uns einstellen, nicht umgekehrt.

Geringe Integration

Geringe Integration bedeutet, dass wir große Schwierigkeiten haben, unsere Affekte und die unserer Kommunikationspartner zu verstehen. Den Gefühlen anderer gegenüber zeigen wir uns unbeteiligt. Zärtliche Gefühle in uns wahrnehmen und zeigen, Ärger spüren und herauslassen – das alles fällt uns sehr schwer, was auch zur Folge hat, dass wir nur sehr schwer bzw. gar keine Beziehung aufnehmen können. In der Kommunikation aufkommende Gefühle der Verwirrung oder inneren Leere überspielen wir durch vermeintlich rationales Argumentieren, das sich oft als taktlos und „neben der Spur“ darstellt. Durch unser Vorbeireden und aufkommende Missverständnisse kommt es zwangsläufig zu Kommunikationsstörungen bzw. -abrissen.

Desintegration

Durch die typische fehlende Abgrenzung Innenwelt-Außenwelt bei der Desintegration hat für uns beinahe alles kommunikative Bedeutung. Während wir unsere eigenen Affekte ungefiltert und ausschließlich im eigenen Interesse ausleben statt diese zu kommunizieren, können wir die Affekte anderer nicht entschlüsseln, innere Vorgänge allenfalls „ahnen“ und für unsere Zwecke nutzen. Ein Wir-Gefühl entsteht nicht, wir können uns nicht auf andere einschwingen, geschweige denn Taktgefühl beweisen. Dabei schwanken wir zwischen distanzlosem und geradezu autistischem Verhalten.

6. Bindung

Hierbei geht es um unsere Kompetenz, uns an wichtige Bezugspersonen, z. B. in einer festen Partnerschaft zu binden. Unsere Bindungsfähigkeit hängt stark mit unserer Fähigkeit zur Objektwahrnehmung (siehe Punkt 4.) zusammen.

Gute Integration

Bei guter Integration haben wir individuelle, in sich differenzierte und lebendige Bilder von uns wichtigen Personen im Kopf. Wir haben Interesse an der Kontaktaufnahme, können die Affekte anderer dekodieren, Interaktionsregeln entwickeln und Beziehungen erhalten. Auch wenn unsere Gefühle zum Teil gegensätzlich sind und es zu Konflikten kommt, ist unsere Bindung an diese Menschen konstant und bleiben die Grundaffekte ihnen gegenüber dieselben. Unsere Beziehungen werden nicht von Abhängigkeiten beherrscht.

Konflikte können entstehen auch bei hohem Strukturniveau, wenn wir Widersprüche in unseren Beziehungen – auch in triadischen, d. h. Dreierbeziehungen wie Vater-Mutter-Kind – nicht harmonisieren können, daraus z. B. Rivalitäten, Eifersucht etc. erwachsen. Unsere zentrale Angst ist es, die Liebe unseres Partners/der wichtigen Personen in unserem Leben zu verlieren. Jedoch sind wir in der Lage, Trennungen zu tolerieren, zu trauern und unsere Affekte für die „verlorene“ Person abzuziehen.

Mäßige Integration

Von mäßiger Integration können wir ausgehen, wenn wir die uns wichtigen Personen und deren Interessen in erster Linie aus unserer eigenen Perspektive wahrnehmen, wenn es in unserer Bindung z. B. um Versorgung, Selbstwertstabilisierung und Kontrolle geht. Wir haben stabile innere Bilder von den uns wichtigen Menschen, die aber in Konfliktsituationen schnell verloren gehen können. Dabei kommt es innerhalb unserer Beziehungen bereits zum Konflikt, wenn der/die andere sich nicht so verhält, wie wir es uns wünschen. Nur, wenn unser Gegenüber sich quasi konform unserer Wunschvorstellung von einer Beziehung verhält, fühlen wir uns sicher. In triadischen Beziehungen ist dies selten bis nie der Fall – wir suchen die Zweierbeziehung. Unsere zentrale Angst ist es, die uns wichtige, stützende wie steuernde Person zu verlieren.

Geringe Integration

Bei geringer Integration ist unsere Fähigkeit, dauerhafte innere Bilder von Menschen zu entwerfen, ebenso gestört wie unsere Fähigkeit, stabile emotionale Bindungen herzustellen. Da es uns schwerfällt, uns in andere hineinzuversetzen, wirken sie unberechenbar auf uns, erscheinen einseitig gut oder böse und erzeugen in uns Gefühle der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins, der Abhängigkeit und der Extreme bis zum Hass. Zugehörigkeitsgefühle entwickeln wir ohnehin nur, wenn die jeweilige Person leibhaftig präsent ist.

Wir neigen zu wechselnden, kurzen, abhängigen Beziehungen. Die Erfahrung schmerzlicher Loslösung kennen wir nicht. In Trennungsphasen sind wir unstrukturiert, depressiv oder regressiv, aber ohne echte Trauer zu empfinden. Die zentrale Angst, die uns beherrscht, ist die, dass unser Selbst von dem bösen oder durch den Verlust des guten Anderen vernichtet werden könnte.

Desintegration

Auf der Stufe der Desintegration weitgehend unfähig, uns (mit unseren Bedürfnissen, Wünschen und Affekten) und andere (mit wiederum ihren Bedürfnissen etc.) getrennt voneinander zu sehen, statt miteinander zu verschmelzen, sind enge Bindungen für uns grundsätzlich problematisch, weil oft mit dem Verlust unserer Identität oder zumindest der Angst davor verbunden. Wir haben keine positiven Beziehungserfahrungen verinnerlicht; enge Bindungen entspringen unserer Phantasie oder aber sie beruhen darauf, dass wir unsere Bedürfnisse gar nicht wahrnehmen können (regressives Niveau). Wahrscheinlicher ist jedoch, dass wir enge Bindungen meiden – bis hin zur autistischen Isolation.

Ordnung und Struktur der Pusteblume
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